Anwesenheitsprämien: Monetärer Anreiz mit möglichem Gesundheitsrisiko

Deutsche Unternehmen setzen verstärkt auf finanzielle Belohnungen für krankheitsfreie Mitarbeiter – doch Experten warnen vor Präsentismus und Folgekosten.
Rechtliche Rahmenbedingungen und Umsetzungsmodelle
Der Deutsche Gewerkschaftsbund bestätigt die grundsätzliche Zulässigkeit von Anwesenheitsprämien im deutschen Arbeitsrecht. Diese Sonderleistungen werden typischerweise über individuelle Arbeitsverträge, Betriebsvereinbarungen oder Tarifverträge geregelt. Arbeitgeber dürfen dabei Kürzungen bei krankheitsbedingten Ausfällen vornehmen, allerdings sind diese auf maximal ein Viertel des durchschnittlichen Tageslohns pro Krankheitstag begrenzt. Als finanzielle Zusatzleistung zum regulären Entgelt konzipiert, variiert die Ausgestaltung je nach Unternehmen erheblich. Vereinbarungen, die für Beschäftigte ungünstiger ausfallen, werden rechtlich als unwirksam eingestuft.
Praxisbeispiele aus der deutschen Wirtschaft
Die Bandbreite der Prämiensysteme zeigt deutliche Unterschiede in Höhe und Struktur. Die Kieler Verkehrsgesellschaft (KVG) gewährt bis zu 1.000 Euro jährlich, aufgeteilt in Quartalsbeträge von 250 Euro bei vollständiger Anwesenheit. Selbst bei bis zu zwei Krankheitstagen erhalten Mitarbeiter noch 200 Euro, bei drei bis vier Tagen immerhin 125 Euro.
Tesla führt offenbar ein Pilotprojekt durch, bei dem der „Gold-Status" mit 1.000 Euro belohnt wird. Laut einer Handelsblatt-Recherche drohen häufiger erkrankten Mitarbeitern jedoch Konsequenzen. Die Hamburger Hochbahn zahlt 615,62 Euro pro Halbjahr, wobei Abzüge erst ab dem dritten Krankenarbeitstag greifen.
Weitere Unternehmen wie I-SEC am Frankfurter Flughafen (2,50 Euro täglich), TruckHero (200 Euro monatlich) und Heidelberger Druck (Verlosung von 800 Euro netto) setzen auf unterschiedliche Ansätze. Auch SGM München, Kölner Verkehrsbetriebe, Nemera und PS Union Group haben entsprechende Programme implementiert.
Arbeitgeberperspektive: Kostensenkung und Personalstabilität
Unternehmen begründen Anwesenheitsprämien primär mit der Reduzierung von Lohnfortzahlungskosten bei Krankheit. Verkehrsbetriebe wie KVG und Hamburger Hochbahn nutzen sie gezielt zur Vermeidung personalmangelbedingter Ausfälle und Verspätungen. Jürgen Otto, Vorstandschef von Heidelberger Druck, betonte gegenüber der Rhein-Neckar-Zeitung, dass sein Unternehmen nicht bestrafen, sondern Wertschätzung für kontinuierlich anwesende Mitarbeiter ausdrücken wolle. Die Prämien sollen Verlässlichkeit und Pünktlichkeit fördern sowie qualifiziertes Personal langfristig binden.
Kritische Stimmen: Präsentismus als Kostenrisiko
Experten warnen vor erheblichen Risiken der Prämiensysteme. Der zentrale Kritikpunkt richtet sich gegen die Förderung des Präsentismus – das Arbeiten trotz Krankheit. Der DGB Rechtsschutz verweist auf Unternehmensberatungszahlen, wonach Präsentismus-Kosten schnell doppelt so hoch ausfallen können wie reine Fehlzeiten. Arbeitsrechtler Michael Felser kritisiert das implizite Misstrauen gegenüber Arbeitnehmern, das durch solche Prämien ausgedrückt werde. Dies könne sich negativ auf Betriebsklima und Leistung auswirken. Ein Aachener Busfahrer äußerte im WDR-Beitrag Bedenken über die moralische Fragwürdigkeit, Gesundheit „erkaufen" zu wollen.
Gewerkschaftliche Position und Alternative Ansätze
Gewerkschaften wie Verdi bezeichnen Anwesenheitsprämien als „Irrweg". Fachanwalt Nils Wigger argumentiert gegenüber dem Handwerksblatt für nachhaltigere Lösungen: verbesserte Dienstpläne, positives Arbeitsklima, Gesundheitsförderung und betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) seien wirksamere Instrumente zur Fehlzeitenreduzierung. Arbeitsrechtler Felser fasst die alternative Philosophie prägnant zusammen: „Wenn Arbeitnehmer sich freuen, zur Arbeit zu gehen, machen sie weniger ‚blau'. Sie feiern nicht nur weniger krank, sie werden auch seltener krank."
Fazit: Kurzfristige Einsparungen versus langfristige Risiken
Anwesenheitsprämien bleiben ein kontroverses Instrument der Personalwirtschaft. Während sie kurzfristig Krankenstände reduzieren können, bergen sie das Risiko gesundheitlicher Verschlechterungen und höherer Folgekosten durch Präsentismus. Die nachhaltige Senkung von Fehlzeiten scheint eher durch strukturelle Verbesserungen der Arbeitsbedingungen erreichbar als durch monetäre Anreize, die potentiell gesundheitsschädliches Verhalten fördern.