Hubig übertrifft Buschmann-Pläne: Justizreform verschiebt 65.000 Verfahren pro Jahr

Stefanie Hubigs Referentenentwurf reagiert auf die dramatischen Eingangszahlen-Rückgänge bei Amtsgerichten – die Anwaltschaft fürchtet Mandatsverluste durch fehlenden Anwaltszwang.
Eingangszahlen-Kollaps zwingt zur Strukturreform
Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz konzipiert eine fundamentale Zuständigkeitsverschiebung im Zivilverfahren. Die Streitwertgrenze für Amtsgerichte soll von 5.000 auf 10.000 Euro angehoben werden – eine Verdoppelung, die Marco Buschmanns Entwurf von 2024 (8.000 Euro) deutlich übertrifft. Eine BMJV-Studie dokumentiert alarmierende Entwicklungen: Zwischen 2005 und 2019 brachen Amtsgericht-Eingänge um über ein Drittel ein. Obwohl 2024 eine Erholung auf 773.000 Neueingänge (von 715.384 in 2023 ) erfolgte, attestiert das Ministerium keinen nachhaltigen Trendwechsel. Bürger nennen hohe Kosten, lange Verfahrensdauern und unsichere Erfolgsprognosen als Klage-Hemmnisse.
Dezentrale Justizinfrastruktur soll überleben
Hubigs Reform adressiert existenzielle Bedrohungen für kleinere Amtsgerichtsstandorte. Das BMJV warnt vor kompletten Schließungen, da Personalabbau die Eingangszahlen-Rückgänge nicht kompensieren kann. Die über 600 deutschen Amtsgerichte repräsentieren laut Ministerium einen "wichtigen Beitrag zur Bürgernähe der Justiz" und gewährleisten ortsnahen Rechtsschutz. § 23 Nr. 1 GVG erfährt damit die erste Anpassung seit über 30 Jahren. Die Justizministerkonferenz (JuMiKo) hatte bereits 2022 entsprechende Forderungen aus Baden-Württemberg unterstützt.
Spezialisierung durch sachliche Zuständigkeitsverschiebung
Parallel zur Streitwerterhöhung implementiert der Entwurf sachliche Umschichtungen: Nachbarrechtsstreitigkeiten werden streitwertunabhängig den Amtsgerichten zugewiesen, während Arzthaftungs- , Presse- und Vergaberecht komplett zu den Landgerichten wandert. Diese Spezialisierung soll Expertise-Cluster fördern. Das BMJV prognostiziert jährlich 65.000 zusätzliche Amtsgericht-Verfahren bei gleichzeitiger Entlastung der Landgerichte (minus 58.000) und Oberlandesgerichte (minus 14.000).
Anwaltschaft kalkuliert Millionenverluste
Die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) und der Deutsche Anwaltverein (DAV) artikulieren massive Bedenken. § 78 ZPO eliminiert Anwaltszwang vor Amtsgerichten – künftig können Parteien bis 10.000 Euro Streitwert auf anwaltliche Vertretung verzichten. Obwohl sich aktuell 68 Prozent der Amtsgericht-Parteien anwaltlich vertreten lassen, rechnet das BMJV mit 4.500 wegfallenden Mandaten. Bei durchschnittlich 3.200 Euro Vergütung pro Fall summiert sich der Verlust auf 14,5 Millionen Euro für Privatmandanten plus weitere 15 Millionen Euro bei Wirtschaftsverfahren. Prof. Dr. Matthias Kilian (Universität Köln) prognostizierte bereits für Buschmanns moderateren 8.000-Euro-Entwurf, dass 20 Prozent der 286.000 jährlichen Landgericht-Neuzugänge betroffen wären. Der aktuelle 10.000-Euro-Vorschlag verschärft diese Umverteilung erheblich.
Verbändebeteiligung startet diese Woche
Der Referentenentwurf geht nach LTO-Informationen am Dienstag in die Länder- und Verbändebeteiligung. Die Anwaltschaft wird ihre Kritik intensivieren, während die Justizministerien der Länder über Implementierung und Personalkonsequenzen beraten müssen.